Moritz, Bernhard, Joseph und Sigmund Resch

Humboldtstr. 11

Resch, Moritz

            Bernard

            Joseph

            Sigmund

Stolpersteinverlegung für Moritz, Bernhard, Joseph und Sigmund Resch am 29.9.2016 in der Humboldtstraße 11, Worms.

Von Gundula Werger

Am 29. September 2016 wurden vier Stolpersteine für Angehörige der Familie Resch in der Humboldtstraße 11 verlegt. Es handelt sich um Moritz Resch und dessen Söhne Bernhard, Joseph und Sigmund. Die Recherche zu den Biographien erfolgte im Leistungskurs Geschichte am Gauß– Gymnasium unter Anleitung von Gundula Werger. Die Schülerinnen und Schüler des Kurses haben den Gedenkstein für Bernhard Resch gestiftet. Bernhard und seine beiden Brüder waren Schüler der Oberrealschule – der Vorgängerschule des heutigen Gauß– Gymnasiums.

Aus dem Familienbogen, den Karl und Annelore Schlösser angelegt haben, sowie aus Meldekarten und Adressbüchern, die im Stadtarchiv aufbewahrt werden, entnehmen wir die folgenden Informationen. Jonathan Schulz hat diese Quellen für seine 2016 vorgelegte Facharbeit ausgewertet. Eine Anfrage beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen ergab weitere Hinweise für die Schicksale von Bernhard und Joseph Resch.

Moritz Resch, dessen jüdischer Vorname „Moses“ lautete, wurde am 19.11.1879 in Kolomea im damaligen Kaiserreich Österreich– Ungarn geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Stadt zur Republik Polen, so dass Moritz Resch ab diesem Zeitpunkt die polnische Staatsangehörigkeit besaß, was auch seine Söhne betreffen wird. Als Kaufmann ging Moritz Resch nach Deutschland, wobei wechselnde Wohnsitze zu verzeichnen sind. Im Jahr 1907 heiratete er Jetti Leia (Ida) Rosenrauch, die am 15.6.1883 ebenfalls in Kolomea geboren wurde. Die Hochzeit fand in Worms statt. Dort wohnten Jettis Schwester Adele und deren Mann Ignaz Ziegellaub. Moritz Resch arbeitete im Möbelhaus seines Schwagers am Ludwigsplatz.

Moritz und Jetti Resch bekamen drei Söhne. Bernhard wurde am 10.8.1908 in Kaiserslautern geboren, wo die jungen Eheleute zum damaligen Zeitpunkt wohnten. Der Zweitälteste, Joseph, wurde am 3.8.1909 in Worms geboren; der Jüngste, Sigmund, am 3.3.1912 in Münster. Ende des Jahres 1912 ließ sich die junge Familie Resch wieder in Worms nieder, wobei die Wohnadressen wechselten. Das hat offenbar auch mit Problemen zwischen den Eheleuten zu tun. Vorübergehend trennten sich die Eltern. Nach Beginn des Ersten Weltkrieges wohnte die Familie wieder zusammen in der Ludwigsstraße 1, im Haus des Schwagers. Kurz darauf bezog sie eine eigene Wohnung in der Humboldtstraße 11. Diese Adresse sollte bis zum Jahr 1932 Bestand haben. Im Februar 1915 wurde der Familienvater eingezogen und blieb bis zum Kriegsende Soldat in der österreichischen Armee.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Moritz Resch wieder im renommierten Möbelhaus des Schwagers am Ludwigsplatz, das unter dem Namen „E.Scheiring“ firmierte, tätig. Am 1.12.1919 gründete Resch eine eigene Firma, die Firma „Resch und Co.“, die jedoch bereits im April 1921 wieder aufgelöst wurde. Danach arbeite Moritz Resch wieder im Möbelhaus des Schwagers.

Alle drei Brüder Resch besuchten zunächst – anstelle der Volksschule – die kostenpflichtige Vorschule, wo Kinder eigens auf das Gymnasium vorbereitet wurden. Danach waren die Brüder für einige Jahre Schüler der damaligen Oberrealschule in Worms. In Schülerlisten, die heute im Stadtarchiv aufbewahrt werden, sind die Namen der Geschwister und die Klassen, die sie besucht haben, verzeichnet. Bernhard Resch trat im Schuljahr 1917/18 in die fünfte Klasse, die „Sexta b“ ein, in der 52 Schüler versammelt waren. 1925 verließ er die Schule mit dem Realschulabschluss. Er musste eine Klasse wiederholen, wie übrigens auch seine beiden jüngeren Brüder. Als „Korrektor“ arbeitete Bernhard danach bei der damaligen „Wormser Volkszeitung“. Joseph besuchte von 1918 bis 1922 die Oberrealschule und machte anschließend eine kaufmännische Lehre. Der Jüngste, Sigmund, besuchte die Oberrealschule seit dem Schuljahr 1921/1922 und verließ die Schule im Jahr 1926 in der „Untertertia“, der achten Klasse. Anschließend machte er eine Lehre bei einer Baufirma.

Die Mutter der drei Resch- Söhne starb am 5. November 1930 in Worms und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hochheim beerdigt. Dort befindet sich noch heute ihr Grabstein: Sieben Kerzen sind in den schwarzen Marmor eingraviert – ein stilisierter siebenarmiger Leuchter. Es folgen der Name: Jetti Resch, geborene Rosenrauch, sowie die Lebensdaten – auf Hebräisch und auf Deutsch.

Als die nationalsozialistische Herrschaft begonnen hatte, änderte sich das Leben von Moritz Resch und seinen Söhnen innerhalb weniger Wochen. Moritz Resch, der polnischer Staatsbürger war, wurde unter dem nicht belegten Verdacht, einen Meineid geleistet zu haben, genötigt, das Deutsche Reich zu verlassen. Bereits am 6.5.1933 meldete er sich von Worms ab und ging nach Czernowitz, das damals zu Rumänien gehörte. Über Moritz Reschs weiteres Schicksal wissen wir nichts. Wir wissen aber, dass die Juden von Czernowitz, zu denen auch Paul Celan gehörte, in das dortige Ghetto oder in Arbeitslager gezwungen und viele von ihnen in die Todeslager Transnistriens deportiert und ermordet wurden.

Der älteste Sohn, Bernhard, verließ Worms am 28.6.1933 und ging nach Straßburg ins Exil. Elf Jahre später, am 15.5.1944, wurde er vom Sammellager Drancy bei Paris ins litauische Kaunas deportiert. Dort befand sich ein Ghetto, in dessen Nähe die Deutschen Tausende Juden ermordet haben. Ein Teil der Menschen des Transportes wurde in die estnische Stadt Reval (heute: Tallinn) deportiert. Es ist nicht bekannt, wohin Bernhard Resch deportiert wurde und unter welchen Umständen er – vermutlich – umgekommen ist. (Quelle: Transportliste, Abschubliste Nr.73 des B.d.S. Frankreich, 1.1.9.1/11184236, ITS Digital Archive, Bad Arolsen).

Josef Resch war verheiratet und hatte Kinder. Aus der Korrespondenzakte des ITS entnehmen wir, dass er im Juni oder Juli 1941 in das Ghetto in Kolomea, der Heimatstadt seines Vaters, eingewiesen wurde. Als Beruf ist „Elektrotechniker“ angegeben. Offenbar war Joseph, nach einem Aufenthalt in Frankreich, über Holland nach Polen ausgewandert. Dort ist er im Zuge der „rassistischen Verfolgungsmaßnahmen verschollen“. Diese Formulierung steht in einem Brief des Frankfurter Rechtsanwaltes Joachim Volz, den dieser im Auftrag von Josef Reschs Sohn, Richard Resch, am 6.12.1965 geschrieben hat und der beim Internationalen Suchdienst aufbewahrt wird. (Korrespondenzakte B 47 084, 6.3.3.3/ 82705987, ITS Digital Archive, Bad Arolsen). Richard Resch, ein Enkelsohn von Moritz Resch, hat die nationalsozialistische Judenverfolgung überlebt. Wir wüssten gern mehr über Richard Reschs Schicksal.

Der Jüngste, Sigmund, war Mitglied der KPD und in deren Wormser Ortsgruppe aktiv. Am 19.3.1933 wurde er verhaftet und ins Konzentrationslager Osthofen verbracht. Außenminister von Neurath setzte sich für die Freilassung von Sigmund Resch, der die polnische Staatsangehörigkeit besaß, ein, nachdem die polnische Botschaft interveniert hatte. In einem Schreiben an Innenminister Frick erwähnt von Neurath „das blutbefleckte Hemd“ und einen Anzug, „ebenfalls mit getrockneten Blutflecken“. Die Kleidungsstücke des Sohnes waren dem Vater Moritz zugestellt worden. Sigmund wurde am 15.4.1933 aus dem Konzentrationslager entlassen. Er soll bald darauf nach Straßburg gegangen sein und wahrscheinlich nach Palästina ausgewandert sein. Dem Familienbogen ist außerdem zu entnehmen, dass er später – nach dem Krieg? – in Stockholm gelebt habe. Als einziger der drei Brüder hat Sigmund Resch überlebt.

Nachtrag aus 2023:

Durch die Verlegung der Stolpersteine für Moritz, Bernhard, Joseph und Sigmund Resch kam der Kontakt zu Sigmund Reschs Tochter, Jenny Resch, die in Stockholm lebt, zustande. So kann die Geschichte von Sigmund Resch fortgeschrieben werden:

Über den Wormser Juden Sigmund Resch und dessen Flucht nach Schweden

Stolpersteine können wie Briefe sein. Manchmal dauert es etwas länger, bis ein Brief einen Adressaten erreicht und beantwortet wird. Sieben Jahre nach der Verlegung des Stolpersteins für Sigmund Resch, dessen Geschichte hier rekonstruiert werden soll, kündigt dessen Tochter, Jenny Resch, Stockholm, ihren Besuch in Worms an, wo ihr Vater bis 1933 gelebt hatte. Bei der Recherche zur Geschichte ihres Vaters war Frau Resch auf die Stolpersteine gestoßen, die für den Vater und dessen Herkunfts-Familie verlegt worden waren. Zusammen mit Schülerinnen und Schülern hatte ich 2016 die Verlegung veranlasst und die Geschichte der Familie in groben Zügen ins Netz stellen lassen. Warum? Die Namen von Sigmund Resch und dessen Brüdern fanden sich im Archiv der Schule, an der ich unterrichtete und die eben auch Sigmund, Bernhard und Joseph Resch vor ziemlich genau einhundert Jahren besucht hatten. Jenny Resch schreibt: „Wir hatten keine Ahnung, dass der Vater zwei Brüder hatte – oder gehabt hatte.“

Lange Jahre war die Herkunft des Vaters für Jenny, 1947 geboren, eine Leerstelle geblieben. Nach der Scheidung der Eltern hatte sie kaum mehr Kontakt zum Vater, dessen Wutausbrüche sie fürchtete und der 1968 starb, Herzinfarkt. Als die Mutter vor ein paar Jahren hochbetagt starb, fand Jenny ein Foto-Album des Vaters. Einige Bilder schickt sie per Mail. Auf einem ist Sigmund als junger Mann zu sehen: weißes Hemd, Jackett, Krawatte; umringt von Frauen mit gewelltem Bubikopf. Eine trägt eine Nerzstola, eine hält eine Katze im Schoß, einer hat Sigmund den Arm um die Schulter gelegt. Auf dem Tisch davor ein Schachspiel: „Minnesbild från Frankfurt“, „Erinnerungsbild aus Frankfurt“, lautet die Bildunterschrift der um 1932 entstandenen Aufnahme. Ein Foto aus dem Frühjahr 1933 zeigt Sigmund in einer Bahnunterführung. Polizisten, die grinsen, nötigen ihn und andere Männer, antinazistische Parolen zu entfernen.

An einem Samstag im Juni dieses Jahres begleite ich Jenny Resch und deren Sohn Paul in die Humboldtstraße elf, wo Jennys Großeltern fast zwanzig Jahre lang, bis 1933, gewohnt hatten. Ein Eckhaus mit Balkon und sandsteingerahmten Fenstern, der Putz bröckelt. Jennys Großeltern, Moses Moritz und Jetti Ida (die Zweitnamen werden etwa in Meldekarten verwendet), stammten aus Kolomea in Galizien, das damals zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehörte (und heute Teil der Ukraine ist). Die beiden heirateten 1907 in Worms und bekamen drei Söhne. Der Name des Jüngsten, Sigmund, 1912 geboren, war im Kaiserreich à la mode – gerade auch in jüdischen Familien, was deren Akkulturation belegen mag. Jenny sagt: Der Vater habe seinen Namen gehasst. Er nannte sich Siggi. Während des Ersten Weltkriegs wurde Moritz Resch in die österreichische Armee eingezogen. Im November 1918 kehrte er zurück nach Worms und war im Möbelhaus des Schwagers tätig. Als Galizien 1919 Teil der Republik Polen wurde, wurden sämtliche Familienmitglieder polnische Staatsbürger, was für deren weiteres Schicksal von Bedeutung sein wird. Der älteste Sohn, Bernhard, arbeitete als Journalist. Joseph war Elektriker. Sigmund machte eine Maurerlehre und trat in die KPD ein. Er beteiligte sich an Straßenkämpfen gegen die SA, die am Ende der Weimarer Republik bürgerkriegsähnliche Ausmaße annahmen.

Jenny und Paul Resch fotografieren das heruntergekommene Haus. Dann beugen sie sich hinunter zu den Stolpersteinen und lesen die Inschriften: die Namen, Moses, Bernhard, Joseph und Sigmund (Jetti Resch starb 1930, vor Beginn der NS-Diktatur, und ist in Worms begraben), die Stationen der Flucht und die Schlussformeln „Schicksal unbekannt“ beziehungsweise „ermordet“. Moses Resch wurde 1933 aus Deutschland ausgewiesen; ihm wurde unterstellt, einen Meineid geleistet zu haben. Er ging nach Rumänien, nach Czernowitz (die Großstadt ist etwa durch Paul Celan in der deutschsprachigen Literaturlandschaft verankert und gehört heute zur Ukraine). In Czernowitz wurde ein Ghetto errichtet; tausende Juden wurden von dort in die Lager Transnistriens deportiert. In diesem mörderischen Kontext verliert sich die Spur von Moses Resch. Bernhard ging nach Frankreich ins Exil. Vom Sammellager Drancy bei Paris wurde er nach Kaunas oder aber weiter nach Reval (heute: Tallinn) deportiert. Bernhards Name findet sich auf einer Abschubliste des Befehlshabers der deutschen Sicherheitspolizei in Frankreich (Abschubliste Nr.73, B.d.S. 1.1.91/ 11184236, ITS Digital Archive, Bad Arolsen). Joseph Resch wanderte über Holland nach Polen aus und wurde ins Ghetto Kolomea eingewiesen. Dort, in der Geburtsstadt der Eltern, verliert sich seine Spur. Die meisten Juden des Ghettos wurden in das Vernichtungslager Belzec deportiert (Korrespondenzakte B 47 084,6.3.3.3/ 82705987, ITS Digital Archive).

Zu Sigmund Resch hält die Inschrift fest: Im Widerstand/ KPD. Verhaftet 1933. Gefängnis Worms. Osthofen. Flucht 1933 Frankreich. Schicksal unbekannt. Im April 1933 wurde Sigmund ins Konzentrationslager Osthofen verbracht, wo politische Gegner der Nazis und Juden interniert waren. Kurz nach der „Reichstagsbrandverordnung“ errichteten die Nazis in Osthofen ein sogenanntes „wildes“ Lager, das ab Mai 1933 bis zum Sommer 1934 als offizielles Konzentrationslager des Landes Hessen galt. Anna Seghers setzt dem Lager im Roman Das siebte Kreuz ein literarisches Denkmal (und verortet es in Westhofen). Weil Sigmund polnischer Staatsbürger war, intervenierte der polnische Botschafter beim deutschen Außenminister von Neurath. Deshalb wurde Sigmund am 15.4.1933 entlassen. Er setzte sich nach Saarbrücken ab. Nach der Eingliederung des Saarlandes ins Deutsche Reich floh er nach Frankreich. Während einer Kundgebung 1935 in Paris wurde er festgenommen und zu drei Monaten Haft verurteilt. Jenny scannt Zeichnungen von Mithäftlingen ein, die der Vater aufbewahrt hatte, darunter die des Kommandanten von Elsass-Lothringen („Der Betrüger“).

Mit einem Taxi fahren wir zum Friedhof. Wir bitten den Taxifahrer, der die schwedische Königin der Konversation wegen ins Spiel bringt, uns später wieder abzuholen. Der neue jüdische Friedhof auf der Hocheimer Höhe (der im Mittelalter angelegte „Heilige Sand“ wurde seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für Begräbnisse nicht mehr genutzt) ist durch einen Zaun vom Friedhof der Mehrheitsgesellschaft getrennt. Durch ein Gatter betreten wir das Gräberfeld. Der Haupteingang ist geschlossen. Er führt zur jüdischen Trauerhalle, die als Monument einer traditionsbewussten jüdischen Gemeinde errichtet wurde und der heute ebendiese Gemeinde fehlt, wo an die Verstorbenen erinnert werden könnte. Ein Schild weist darauf hin, dass der Friedhof am Schabbat nicht betreten werden soll. Es ist Samstagmittag. Jetti Reschs Grab befindet sich am Ende einer Reihe von Einzelgräbern. Ein schmaler Stein aus schwarzem Marmor. Darin eingraviert sieben Kerzen, die Menora, mit der sich die Hoffnung auf ein Friedensreich verbindet. Jenny und Paul heben jeweils einen kleinen Stein vom Boden auf und legen den auf den Grabstein. Jenny sagt: Das mache man so. Sigmund sei ein säkularer Jude gewesen, ohne Kontakt zur jüdischen Diaspora in Stockholm. Und, der Vater habe sie Jettika genannt.

Paul Resch schreibt später (auf Englisch): „Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, empfinde ich sowohl Traurigkeit über das, was hätte sein können, als auch Freude darüber, dass ich eine Verbindung zu meiner eigenen Familie herstellen konnte, und sei es nur über einen Grabstein.“ Und: „Placing a stone, on Jetti’s resting place, surrounded by old trees. A monument of remembrance. Now I know where it remains. And I will tell my children.“ Paul Reschs Söhne heißen Mo und Ide. Zufall, sagt Paul, dass seine Söhne Namen tragen, die an die Namen seiner, Pauls, Urgroßeltern, Moses Moritz und Jetti Ida, anklingen.

Nach der Entlassung aus dem Pariser Gefängnis gelangte Sigmund Resch mit Unterstützung der „Roten Hilfe“ über Belgien nach Rostock. Mit einem Boot erreichte er im November 1935 die südschwedische Küste bei Helsingborg. Ein schwedischer Fluchthelfer, ein Schuster, begleitete ihn zur Polizeistation. Sigmund beantragte eine Aufenthaltserlaubnis als politischer Flüchtling und Jude. Der Antrag wurde abgelehnt. Weder die Verfolgung aus rassistischen Gründen noch die Internierung im Konzentrationslager wurden als Begründung akzeptiert. Das lässt sich mit einem latenten Antisemitismus erklären, der in der auf Egalität Wert legenden schwedischen Gesellschaft gleichwohl verwurzelt war und eine restriktive Flüchtlingspolitik zur Folge hatte, die erst 1943 gelockert wurde. Vor allem aber war die von Sozialdemokraten geführte Regierung entschieden antikommunistisch eingestellt. Die Sowjetunion galt als Hauptbedrohung des neutralen Staates. Deshalb überwachte die schwedische Sicherheitspolizei die aus Deutschland geflohenen Kommunisten und arbeitete dabei auch mit der Gestapo zusammen. Foto und Fingerabdrücke von Sigmund Resch wurden den deutschen Behörden übermittelt.

Sowohl die kommunistische als auch die bürgerliche Presse berichteten über Sigmunds Fall. Zwar blieb der Abschiebebeschluss bestehen, doch Sigmund wurde nicht nach Nazi-Deutschland ausgeliefert. Unter der Auflage, sich täglich bei der Polizei zu melden und sich politisch nicht zu betätigen, wurde er freigelassen. Im August 1936 erhielt er eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die alle paar Monate erneuert werden musste. Er arbeitete als Maurer und engagierte sich in einem Netzwerk, das Flüchtlinge bei der Einreise unterstützte. Dabei lernte er seine spätere Frau, Iris, kennen, die aus einer sozialistischen Arbeiterfamilie stammte.

Vor einigen Jahren beantragte Jenny Resch Einsicht in die Akte, die die schwedische Sicherheitspolizei über ihren Vater geführt hatte (SÄPO-Akte). Teile der Akte übersetzt sie für uns. Dabei lässt sich eine kontinuierliche Überwachung Sigmunds nachweisen –und zwar weit über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus. Die Akte enthält ein Schreiben, datiert auf den 12.4.1937, welches den schwedischen Behörden über die deutsche Botschaft Stockholm zugestellt wurde. Eine Bleistiftnotiz hält fest: „Erhallit från Bolte“, „erhalten von Bolte“. Hermann Bolte war Gesandtschaftssekretär an der deutschen Botschaft und inoffiziell für nachrichtendienstliche Aufgaben eingesetzt. In dem Schreiben wird der „Jude“ Resch als Terrorist exponiert: Er sei Mitglied einer kommunistischen „Hammerstaffel“ gewesen, die „Militärwaffen“ für einen „bewaffneten Aufstand im Besitz hatte“. Deshalb Internierung im „Konzentrationslager Osthofen“. Über Sigmunds Agitation in Saarbrücken („Literaturobmann“ der KP) wird in dem Schreiben ebenso berichtet wie über dessen Verurteilung in Paris wegen angeblichen „Landfriedensbruchs, Rebellion und Vagabundierens“. Die deutschen Behörden waren über Sigmunds Aufenthalt in Frankreich bestens informiert. Offenbar hinterfragte die schwedische Sicherheitspolizei die propagandistische Lesart des Schreibens nicht, das ihren Vater ein Leben lang verfolgt habe, schreibt Jenny, und ein Grund dafür gewesen sei, dass dieser niemals die schwedische Staatsbürgershaft erhalten habe. Besagte „Hammerstaffel“ lässt sich in Worms nicht nachweisen.

Nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Deutschen im Frühjahr 1940 wurde Sigmund während einer landesweiten Razzia gegen illegal in Schweden lebende Ausländer verhaftet und ins Lager Långmora verbracht. Wegen angeblichen „Ungehorsams“ wurde er zwischenzeitlich in die Haftanstalt Falu verlegt. Danach war er im Lager Smedsbo interniert, wie Långmora in den mittelschwedischen Wäldern gelegen. Während eines Hafturlaubs wurde die Freundin Iris schwanger; die Anfang 1942 geborene Tochter Carola würde Sigmund erst anderthalb Jahre später sehen. Wegen angeblicher „Sabotage“ wurde Sigmund für einige Monate in ein Stockholmer Untersuchungsgefängnis verlegt. Dass er Mitglied einer Partisanengruppe war, die sich im Lager formiert und militärische Einrichtungen habe sprengen wollen, konnte nicht nachgewiesen werden. Sigmund kam zurück nach Smedsbo. Im Sommer 1943 wurde er entlassen.

Während des Zweiten Weltkrieges wurden zwischen zwei- und dreitausend Flüchtlinge, die meisten von ihnen waren Deutsche, in insgesamt vierzehn schwedischen Lagern interniert. Die Internierten waren auf unbestimmte Zeit ihrer Freiheitsrechte beraubt, ohne dagegen rechtliche Mittel einlegen zu können. Lagerkleidung, ständige Überwachung, Briefe wurden zensiert. Sigmunds Brief an Iris, in dem er sich über Schwedens „demokratische Hölle“ auslässt und von der Sowjetunion als einem „Land der Freiheit“ spricht, wurde nicht zugestellt. Schwere Straßen- und Forstarbeiten und der ständige Druck, nach Deutschland abgeschoben zu werden, was einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Bei einer Ansprache, die der deutsche Pazifist Ulrich Herz überliefert, bekamen die Internierten etwa zu hören: „Wieder haben die deutschen Behörden gefordert, dass ihr nach Hitler-Deutschland ausgeliefert werden sollt. Wir haben noch einmal diesen Antrag abgewiesen. Aber wir wissen nicht wie lange wir es schaffen. Wir gehen davon aus, dass ihr mit uns solidarisch seid, so wie wir mit euch solidarisch sind.“

Seit dem Winterkrieg zwischen der Sowjetunion und Finnland 1939/40 einerseits und der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Deutschen andererseits sah sich Schweden in seiner territorialen Integrität massiv bedroht. Zugleich wurde das Deutsche Reich als Schutzmacht gegen die Sowjetunion angesehen, jedenfalls solange die Vorstöße der Wehrmacht erfolgreich waren. Schweden unterstützte die Deutschen mit dem Transit von Wehrmacht-Soldaten über schwedisches Territorium, vor allem aber mit der Lieferung von Eisenerz für die deutsche Rüstungsindustrie. Ohne diese Lieferungen wäre Hitler-Deutschland nicht in der Lage gewesen, einen jahrelangen Eroberungskrieg zu führen. Wenn die Erztransporte ausgesetzt worden wären, hätten die Deutschen Schweden zweifellos besetzt. Erst nach der Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad erfolgte eine Kehrtwende in der schwedischen Außen- und Flüchtlingspolitik. Seit 1943 nahm Schweden jüdische Flüchtlinge großzügig auf. Die meisten der in den Lagern internierten Flüchtlinge wurden entlassen. Auf diesem Hintergrund ist auch Sigmund Reschs Entlassung zu bewerten. Schweden sei sehr langsam, zu langsam darin gewesen, eindeutig Partei gegen Nazi-Deutschland zu ergreifen, urteilt der schwedische Historiker Henrik Berggren. Nach dem Krieg ließ die Regierung unter Leitung des vormaligen Ministerpräsidenten Rickard Sandler die Lager untersuchen („Sandler-Kommission“). Sigmund Resch findet sich auf der Liste der Kommission. Eine Rehabilitierung würde er zu keinem Zeitpunkt erfahren.

Nach seiner Entlassung lebte Sigmund Resch mit seiner Familie in Stockholm. Er arbeitete als Maurer und bildete sich zum Bauingenieur weiter. Die Mutter arbeitete in einer Wurstbraterei im Kungsträdgården, später als Kontoristin. Bescheidener Wohlstand. Stolz habe der Vater ihr, Jenny, Gebäude gezeigt, an deren Entwurf und Errichtung er beteiligt gewesen war. Ein Foto, Ende der 1950er Jahre aufgenommen, zeigt Vater und Tochter vor der Kunstakademie. Der Vater trägt einen hellen Mantel, Baskenmütze und Hornbrille. Sein linker Arm liegt auf der Schulter der Tochter. Vom Vater hat Jenny ein wenig Deutsch gelernt (das sie im Goethe-Institut vertiefte). Sie schreibt: Der Vater durfte sich politisch nicht betätigen, was dessen Identität beschädigt haben dürfte. Zeit seines Lebens sei er ein „fanatischer“ Kommunist geblieben. Stalin war für ihn ein „Held“, der die Nazis besiegt hatte. Die Massenmorde an Dissidenten tat er als Propaganda des Westens ab. Die Berliner Mauer verteidigte er als Schutzwall gegen den Kapitalismus. Hin und wieder besuchten deutsche Freunde die Familie, die nach und nach zurück nach Ostdeutschland gingen.

Anfang der 1950er Jahre wollte auch Sigmund in die DDR übersiedeln. Da es keine ostdeutsche Botschaft in Schweden gab, wandte er sich an die Botschaft der Bundesrepublik. Die Westdeutschen verweigerten ihm die Einreise (zunächst in die BRD), weil er zu keinem Zeitpunkt die deutsche Staatsbürgerschaft besessen hatte. Daraufhin wandte sich Sigmund – erfolglos- an die sowjetische Botschaft, was allerdings von der schwedischen Sicherheitspolizei registriert wurde. Die schwedische Staatsbürgerschaft, die er wiederholt beantragt hatte, erhielt Sigmund nicht. Der Vater starb staatenlos, schreibt die Tochter. Und sie fährt fort: „Dieser ganze Hintergrund hat mich daran gehindert, das Gefühl zu haben, dass ich einen Platz unter denen habe, die von den Nazi-Verfolgungen betroffen waren. Es kam mir anmaßend vor, diesen Faden aufzunehmen.“

Paul Resch schreibt nach dem Besuch in Worms: Die Stolpersteine vor dem alten gelben Wohnhaus Nummer 11, einst das Zuhause von Jetti, Moritz, Sigmund, Bernhard und Joseph – er könne nicht anders, als sich andere Schicksale vorzustellen als „Schicksal unbekannt“ und „ermordet“. Wenn er an seine Kindheit denke, sei seine Familie ein wenig anders gewesen als andere Familien: keine Familientreffen, keine „Dinner-Partys“, keine Blumen, die auf Gräbern niedergelegt wurden. Der Verlust des Vaters und der Brüder und die Trennung vom Grab der Mutter hätten es seinem Großvater Sigmund, den er nicht gekannt habe, schwer gemacht, selbst ein guter Vater zu sein. Vor der Abreise nach Stockholm geht Paul Resch noch einmal zum Haus der Urgroßeltern. Er legt ein Blatt Papier auf die Stolpersteine und reibt mit einem Stift darüber. Die „Frottage“ schickt er per E-Mail.

Gundula Werger, 2023