Flora Herz geb. Hirsch (1902 – 1986), Edith Herz (1926 – 2023), Suse Margot Herz (1931 – 2002)

Zur Verlegung am 22.11.2024 waren 6 Nachfahren aus USA angereist:

Elaine Peizer geb. Rosenstock mit Ehemann Alan (Enkelin von Flora Herz und Tochter von Suse Margot Rosenstock geb. Herz),

Ruth Finegold geb. Lucas mit Ehemann Bob (Enkelin von Flora Herz und Tochter von Edith Lucas Pagelson geb. Herz) und

Jerry Lucas mit Ehefrau Lu (Enkel von Flora Herz und Sohn von Edith Lucas Pagelson geb. Herz)

Die folgenden Texte wurden für die Stolperstein-Verlegung am 22.11.2024 in enger Abstimmung zwischen den Nachfahren und Inga May zusammengestellt. Elaine Peizer, Ruth Finegold und Jerry Lucas trugen die jeweils englischen Texte vor, Schülerinnen und Schüler der Karmeliter Realschule Plus lasen die deutschen Texte.

Flora Herz geb. Hirsch wurde 1902 in Bad Wildungen geboren. Sie war die älteste von 4 Geschwistern. Die Familie hatte 3 gut gehende Souvenirläden in der Haupteinkaufsstraße der eleganten Kurstadt. Aus ganz Europa kamen die Kurgäste zu jener Zeit. Auf diese Art lernte Flora ihren zukünftigen Mann, Albert Herz kennen.

Flora und Albert zogen nach Worms, wo Albert mit seinem Bruder Ferdinand Herz einen Eisenwaren-Groß- und Einzelhandel betrieb in der Kämmererstraße 10 (heute 6). Flora hatte eine kaufmännische Ausbildung; die Eheleute ergänzten sich perfekt und das Geschäft blühte.

Flora und Albert Herz hatten 2 Töchter: Edith kam 1926 und Suse 1931 zur Welt. Die Familie war glücklich, sie arbeiteten hart im Geschäft, genossen das Leben in Worms und die Besuche bei den Großeltern in Bad Wildungen. Die Familie war sehr religiös und ging jeden Sabbat zum Gottesdienst in die alte Synagoge.

Am 9. November 1938 zerstörten Nazischergen in braunen Hemden ihren Eisenwarenladen, so wie sie es mit allen anderen jüdischen Geschäften, Häusern und Synagogen in diesem Pogrom taten.

Albert war an jenem Abend in der Synagoge, die bis auf die Grundmauern niederbrannte, während Flora sich mit ihren Töchtern auf dem Dachboden versteckte und hörte, wie der Laden und ihre Wohnung zertrümmert wurden.

Albert wurde verhaftet und mit 30.000 weiteren jüdischen Männern in Buchenwald eingesperrt. Flora rannte immer wieder zu den Ämtern, bettelte und flehte die Bediensteten an; dank dieser Hartnäckigkeit wurde er 4 bis 6 Wochen später freigelassen.

Flora Herz 1938/39
Albert Herz 1938/39

(Fotos von Elaine Peizer, Fotos waren der Tochter Suse mit auf den Kindertransport gegeben worden.)

Die jüngere Tochter Suse wurde mit einem Kindertransport nach England geschickt – wieder hatte Mutter Flora hartnäckig darauf gedrängt, dass wenigstens eine aus der Familie überleben sollte; sie selbst wurde schließlich 1942 zusammen mit ihrem Mann und Edith nach Theresienstadt deportiert. Albert starb dort, weil er nicht ausreichend medizinisch versorgt wurde, Flora und Edith wurden weiter nach Auschwitz deportiert.

Als Flora im Rahmen einer Selektion „aussortiert“ werden sollte, überzeugte Edith Dr. Mengele, dass ihre Mutter sehr wohl arbeitsfähig sei. Mutter und Tochter überlebten auch den Gang in die Gaskammer, die an einem Tag einfach nicht funktionierte und später wurden sie nicht wieder aufgerufen. Sie überlebten danach einen Todesmarsch und das KZ Stutthof.

Nach der Befreiung verbrachte Flora mit ihrer Tochter Edith einige Zeit in einem Lager für „displaced persons“ und 1947 wurden sie endlich mit Suse in den USA wiedervereint.


Edith, Flora und Suse Herz ca. 1948, USA

(Foto von Ruth Finegold)

Edith und ihr Ehemann Henry Lucas eröffneten die TIC TOC REINIGUNG in Brooklyn und Flora arbeitete mit; dort wohnten sie auch lange. Flora genoss ihre Rolle als Großmutter für Ediths und Suses Kinder. 1951 heiratete Flora in USA ihren zweiten Ehemann Hermann Kahn und siedelte nach Somers, New York über. Sie starb 1986.

Sie war eine ausgesprochen willensstarke Frau mit vielen Talenten, sehr integer und nie auf ihren eigenen Vorteil bedacht; sie war mutig und großzügig. Sie hatte eine einnehmende Persönlichkeit und liebte ihre Familie.

Flora überlebte so Vieles. Diese starke Frau stellte das Wohlergehen ihrer Tochter über das eigene, indem sie Suse einer christlichen Familie in England anvertraute, ohne zu wissen, ob sie sie jemals wiedersehen würde, um der Tochter das Leben zu retten. Ohne diese Stärke und den Zusammenhalt hätten sie und Edith den Weg durch die Hölle der KZs und des Todesmarsches nicht überlebt. Flora und Edith sind zwei der wenigen Wormser Juden und Jüdinnen, die den Holocaust überlebten.

Edith Herz

„Edith war das Oberhaupt der Familie, Holocaust-Überlebende, Sprecherin und Botschafterin“ so zitierten die Nachfahren am 22.11.2024 aus dem Nachruf zu ihrem Tod („… Edith Lucas Pagelson, family matriarch, Holocaust survivor, public speaker, and educator …“).

Edith wurde 1926 in Worms geboren. Prägende Kindheitserinnerungen hatte sie an das Schwimmen im Rhein und daran, dass sie im Eisenwarenhandel der Eltern mithalf und eine sehr gute Schülerin war.

Die Familie war in der Wormser tausend-jährigen jüdischen Gemeinde aktiv und Edith selbst sang im Chor der Synagoge. Sie hatte jüdische und nicht-jüdische Freundinnen und sie erinnerte sich noch sehr bewusst an die Zeit, als Freunde einfach Freunde waren und sich die Nachbarn gern gegenseitig besuchten.

Edith Herz ca. 1938/39

(Foto von Elaine Peizer, Foto war der Schwester Suse mit auf den Kindertransport gegeben worden)

Das hörte alles mit dem Pogrom am 10. November 1938 auf. Edith war 12 Jahre alt.

Im Chaos zwischen zerschlagenem Laden und den elterlichen Bett-Matratzen auf der Straße begann für Edith eine „Reise“, die sie vom Ghetto Theresienstadt zu den Konzentrationslagern Birkenau und Auschwitz, zum Arbeitslager Stutthof und an die russische Front führte.

Sie wurde Zeugin des von den Nazis inszenierten Schauspiels vom „harmlosen Alltag in Theresienstadt“ um das Internationale Rote Kreuz zu täuschen. In Auschwitz stand sie Dr. Josef Mengele persönlich gegenüber und sie überlebte einen Gang in die Gaskammer – welch ein Wunder. An jenem Tag funktionierte die Gaskammer nicht; Edith und ihre Mutter verließen die Gaskammer wieder und wurden kein zweites Mal hineingezwungen.

Edith sah das Leben als eine Abfolge von Wundern an: angefangen mit einer Zitrone aus ihres Vaters Manteltasche, die sie nach einem Gewaltmarsch wieder lebendig werden ließ, dann das Wunder, auf ihrer Odyssee durch das von den Nazis kontrollierte Osteuropa nie von ihrer Mutter getrennt worden zu sein; dann erkannte sie unter den Tausenden zusammengepferchten Menschen im Lager ihren Kindheitsfreund Henry Lucas, nach dem Krieg fand er sie wieder und später heirateten sie.

1947 wurden Henry, Edith und Mutter Flora mit Ediths Schwester Suse in USA wiedervereint – acht Jahre lang hatten sie sich nicht gesehen. Vor Kriegsausbruch war Suse im Alter von 8 Jahren mit einem Kindertransport nach England geschickt worden.

Ediths US-amerikanischen Verwandten und Nachbarn rieten ihr damals, die Vergangenheit zu vergessen; das kam aber für Edith nicht in Frage.

Sie und ihr Ehemann Henry Lucas ließen sich in New York, im Stadtteil Brooklyn nieder. Dort erzogen sie ihre Kinder Jerry und Ruth (beide bei der Verlegung der Stolpersteine anwesend) und betrieben zusammen mit Mutter Flora eine chemische Reinigung. Leider starb Henry 1973 bei einem Sessellift-Unglück.

1975 heiratete Edith Arthur Pagelson, der als junger Mann aus Deutschland geflohen war und auf Seiten der USA im 2. Weltkrieg kämpfte. Sie erlebten viele schöne Jahre zusammen.

Oft wurde Edith eingeladen, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Bis in ihr Todesjahr 2023 folgte sie den Einladungen und sprach in Schulen, in Kirchen, in Synagogen, in Vereinen und Unternehmen in New York, Kalifornien und Maine. Sie fühlte sich geehrt, eingeladen zu sein, sie sprach mit Freude und Demut über das, was sie erlebt hatte. Sie wiederholte immer wieder: „Ich hoffe zutiefst, dass meine Geschichte von Verfolgung, Horror, Durchhaltevermögen, Überleben, Wiedergeburt und Veränderung sowohl bei jungen als auch älteren Menschen Früchte tragen wird. Unschuldigen und neugierigen Schülern – besonders im mittleren und Oberstufenalter – könnte ich kein größeres Geschenk machen; sie sind gerade dabei, ihre Einstellungen und ihren Gedanken zu Ethik und Toleranz zu bilden.“

Edith Herz Lucas Pagelson, ca. 2018

(Foto von Ruth Finegold)

Jerry Lucas (Ediths Sohn) betonte: „Edith sah das Glas immer halb voll. Wir können die Geschichte nicht ungeschehen machen, aber wir können von ihr lernen; nicht vergessen, sondern durch sie besser werden.

Die Stolperstein-Verlegung ist ein großes Zeichen der Anerkennung, eine Ehre für Edith und für die ganze Familie; dies zeugt davon, dass wir zu dem stehen, was geschehen ist und dass wir von der Vergangenheit lernen wollen.“

2012 veröffentlichte Edith Lucas Pagelson ihre Lebensgeschichte “Against All Odds: A Miracle of Holocaust Survival”.

Suse Margot Herz

Suses Tochter Elaine Peizer las am 22.11.2024 die englische Version des Textes vor.

Hier war das Wohn- und Geschäftshaus meines Großvaters Albert Herz. Zusammen mit seiner Frau Flora, meiner Großmutter, betrieb er einen Eisenwarenhandel. Unsere Wohnung war über dem Ladengeschäft.

Am 9. November 1938 zerstörten und plünderten die „Nazi-Braunhemden“ jüdische Geschäfte, Wohnungen und Synagogen in ganz Deutschland und Österreich, einschließlich des großelterlichen Ladens und der Wohnung.

Suse u. Edith Herz, ca. 1935

(Foto von Ruth Finegold)

Mutter Flora, die 12-jährige Edith und die 7-jährige Suse versteckten sich auf dem Speicher. Albert war in der Synagoge und rannte dann nach Hause, um zu sagen, dass die Synagoge brennt und dass die Mädchen keinen Unterricht hätten; seit 1935 wurden die jüdischen Schüler neben der Synagoge im heutigen Haus zur Sonne unterrichtet.

Albert wurde festgenommen und zusammen mit 30.000 anderen jüdischen Männern nach Buchenwald gebracht. Als er 4 – 6 Wochen später wieder nach Hause kam, war er nicht wiederzuerkennen.

Suse erinnerte sich an das Aufräumen des verwüsteten Hauses nach dem Pogrom und an die Bettfedern, die über die Straßenbahnschienen vor dem Haus verteilt waren.

Die Juden merkten, dass sie nach diesem Pogrom in Deutschland nicht mehr sicher waren. Flora drang darauf, dass wenigstens ein Familienmitglied überleben sollte und so wurde beschlossen, dass meine Mutter Suse – damals 8 Jahre alt – mit einem Kindertransport verschickt werden sollte.

Nach dem Horror der Pogrom-Nacht genehmigte die englische Regierung, dass Kinder bis zu 17 Jahren aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen ohne Begleitung ihrer Eltern so lange in Großbritannien leben sollten, bis die Gefahr für die Juden vorüber sei.

Nach Zahlung von 50 britischen Pfund und nachdem Suse auf die Liste der 10.000 akzeptierten Kinder aufgenommen war, wurde meine damals 8 Jahre alte Mutter Anfang 1939 an den Bahnhof gebracht.

Suse Herz, 1938/39, kurz bevor sie per Kindertransport nach England reiste

(Foto von Elaine Peizer)

Beim Abschied ermahnte meine Großmutter ihre Suse, brav und hilfsbereit zu sein. Suse stieg in den Zug und fühlte sich sofort für einige noch jüngere Kinder im Alter von 2, 3 und 4 Jahren verantwortlich.

Meine Großmutter hatte ihrer Tochter einige Schmuckstücke für eine Tante in Amsterdam gegeben und als Suse die Nazi-Wachmänner durch die Gänge kommen sah, versteckte sie eine Kette in ihrer Strumpfhose und die andere in einem Füller-Kästchen, das ihr die Mutter auf dem Weg zum Bahnhof gekauft hatte.

Eine andere Sache, an die sich meine Mutter Suse gut erinnerte, war das Weißbrot, das die Kinder bei ihrer Ankunft in England zum Essen bekamen. Sie hatte noch nie Weißbrot gesehen, in Deutschland aß man dunkles Brot; also warnte sie die kleineren Kinder, das Brot nicht zu essen, weil sie fürchtete, die Behörden wollten sie vergiften!

Meine Mutter wurde in England von einer christlichen Familie aufgenommen und blieb dort acht Jahre lang. Ihren Vater sah sie nie wieder. Er starb in Theresienstadt, wohin er mit seiner Frau Flora und der Tochter Edith deportiert worden war.

Nach dem Krieg wurden Flora und Edith wieder mit meiner Mutter Suse in USA vereint.

Suse heiratete Walter Rosenstock, einen deutschen Juden aus Miltenberg, der ebenfalls geflüchtet war. Sie hatten drei Kinder: Elaine, Alan und Deborah.

Suse lebte für ihre Familie und ihre jüdische Gemeinde – genauso wie ihr Großvater Solly Hirsch, der in der jüdischen Gemeinde von Bad Wildungen eine leitende Funktion hatte. Sie war beliebt und allgemein hochgeschätzt.

Es war ihr wichtig, mit jungen Menschen und Studenten über ihre Kindertransport-Erfahrung zu sprechen und ihnen zu zeigen, wozu gute Menschen angesichts von Hass fähig sind.

Edith, Flora u. Suse Herz, ca. 1980

(Foto von Ruth Finegold)

1996 erzählte Suse Herz Rosenstock in einem Interview aus ihrem Leben. Es ist abrufbar auf YouTube (Link öffnet Google-Suche).

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Quellen:

StA Worms, Abt. 170/32 Dokumentation Schlösser

Persönlicher Austausch zwischen den Nachfahren und Inga May

Fotos von Elaine Peizer und Ruth Finegold

Edith Lucas Pagelson: “Against All Odds: A Miracle of Holocaust Survival” ISBN 978-1-936447-28-2

Jewish Survivor Suse Rosenstock Testimony: https://www.google.com/search?q=suse+rosenstock+shoah+interview

Die Steine liegen vor dem südlichen Teil des Hauses Kämmererstr. 10.