Vladimir Kagan – ein Held seines Metiers

Dr. Jörg Koch

Das Lebenswerk Vladimir Kagans ist sagenhaft. Als Meister seines Faches, als Held in seinem Metier, kann der Designer zu recht bezeichnet werden. Doch hinter der Lebensleistung des 1927 in Worms Geborenen steckt harte Arbeit, denn Kagan stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Er musste ums Überleben kämpfen – wie ein Held. Sein Vater, Illy Kagan, war alles andere als ein Held, denn er stand  – zunächst – auf der Verliererseite.

Für den 1887 in Chedrin/Weißrussland geborenen Schreiner endete der Erste Weltkrieg bereits 1914 in deutscher  Kriegsgefangenschaft, ein Jahr später wurde er ins Kriegsgefangenenlager nach Worms verlegt. Doch ein „gewöhnlicher“ Gefangener war der Russe nicht, schnell wurde sein künstlerisches Talent bemerkt. Protegiert von der Lagerleitung bzw. seinem Aufseher hatte Kagan die Möglichkeit, sich als Kunstschreiner mit eigener Werkstätte auf dem Lagergelände zu betätigen. Er fertigte Holzspielzeug, Schmuckkästchen, Kommoden und andere Kostbarkeiten aus Holz, die auf viel Gegenliebe stießen. Er wurde zu einer bekannten Persönlichkeit („favorite figure“) in der Stadt, heißt es in der Überlieferung von Vladimir Kagan über seinen Vater.[1] Einst Feind, nun Freund, kehrte er nicht in die Heimat zurück, auch, weil ihm aus der Ferne die bolschewistische Regierung, die seit dem Ende des Zarenreiches in Russland herrschte, Unbehagen bereitete. Er blieb in Worms und eröffnete eine eigene Kunsthandlung, zunächst in der Kämmererstraße 5 (neben der Engel-Apotheke), ab 1931 am Obermarkt, wo die Familie auch wohnte. Ebenfalls Anfang der 30er Jahre folgte die Eröffnung einer Kunsthandlung in Heidelberg, in der er auch zeitgenössische Werke von Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, Oskar Kokoschka oder Wilhelm Lembruck anbot. Im Dezember 1926 hatte der schwarzhaarige Kagan, der eine „unheimliche Ähnlichkeit mit Charlie Chaplin“ besaß, die 17 Jahre jüngere, aus München stammende Jüdin Hildegard Wallach geheiratet. Die Beziehung zu der Tochter aus „besserem Hause“, deren Familie zur etablierten Münchner Gesellschaft gehörte, sorgte in Worms für Gesprächsstoff.[2] Der zu Vermögen gekommene Julius Wallach, dessen Vorfahren aus Bielefeld stammten, hatte als junger Halbwaise ebenfalls klein angefangen. Im November 1900 hatte er ein „Fachgeschäft für Landestrachten“ eröffnet, das bald expandierte und ihn zum „Königlichen Hoflieferanten“ machte. In den kommenden Jahren folgten die Eröffnung der Wallach-Werkstätten und des Volkskunsthauses. Bis zu seiner Emigration in die USA 1938, wo er 1965 verstarb, war er ein führender Kopf der bayerischen Kunstszene mit internationalen Beziehungen. Trotz der unterschiedlichen Herkunft und des Altersunterschieds sowie manch böswilliger Bemerkungen Außenstehender hielt die Verbindung zwischen Hildegard und Illy Kagan  letztlich 51 Jahre bis dessen Tod. Das Ehepaar bekam zwei Kinder, den Sohn Vladimir (1927) und die Tochter Ruth Tanya (1929).

Betroffen von der antisemitischen Politik der Nazis, verließ die Familie Kagan zu Beginn des Jahres 1938 Worms und emigrierte nach New York. Illy, dessen Schwester mit Familie bereits in den USA lebte, konnte mit einem Visum direkt und gefahrlos einwandern, während seine Frau Hilde und die Kinder auf abenteuerlichem Wege, über München, Saarbrücken und Metz die Heimat hinter sich ließen. Zwar war die Mitnahme größerer Geldsummen verboten, doch konnte Kagan einen mit Möbeln, Kunstwerken und weiteren persönlichen Gegenständen voll bepackten Container nach New York schicken. Dort etablierte sich Illy erfolgreich im Kunstgewerbe. Nach mehr als drei Jahrzehnten in den USA siedelte das Ehepaar Kagan zur Tochter Tanya, die mit dem Dirigenten David Josefowitz verheiratet war und noch nimmer als Künstlerin tätig ist, nach Genf in die Schweiz über. Dort verstarb Illy Kagan 90jährig im Jahr 1977.

Vladimir Kagan blieb in den USA, ihm gelang dort eine erstaunliche Karriere. Nach seinem Architektur-Studium an der Columbia University verband er die Theorie mit der Praxis, die er als Schreinerlehrling bei seinem Vater gelernt hatte. Von da ab widmete er sich dem Bau von Möbeln und der Innenarchitektur. Zu seinen ersten großen Aufträgen, die ihn landesweit bekannt machten, gehörte die Gestaltung der Cocktail Lounge für das erste UN-Hauptquartier, das sich von 1946 bis 1951 in der kleinen Ortschaft Lake Success/Bundesstaat New York befand. Doch auch in Europa war Kagan als Designer tätig, u.a. entwarf er das Restaurant und die Club Lounge des Bahnhofshochhauses in Freiburg/Breisgau. Zu seinen Kunden gehörten Prominente wie die Schauspieler Gary Cooper und Marylin Monroe, die Regisseure Davis Lynch und Andy Warhol, der Sänger Frank Sinatra oder die Modedesginer Giorgio Armani und Tom Ford, aber auch Unternehmen wie General Electric und American Express. Kagans Markenzeichen ist sein schwungvoll-dynamisches Design, das die Aufbruchsstimmung der 60er Jahre widerspiegelt. Seine formvollendeten Werke sind eine gelungene Kombination aus Individualität und Originalität, wobei die Funktionalität des Gegenstandes stets im Vordergrund steht.

Neben seiner praktischen Tätigkeit als Möbeldesigner hielt Kagan Vorlesungen zur Geschichte der Architektur und des Möbeldesigns an der renommierten Parsons School of Design in New York. Von 1990 bis 1992 war er Präsident der American Society of Interior Designers. Vladimir Kagan, der mit Erica Wilson (verstorben 2011) verheiratet war und drei Kinder hatte, war international vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er 2002 die Ehrung für sein Lebenswerk vom Brooklyn Museum New York. Auch im hohen Alter war Kagan, ein schreibfreudiger Blogger immer auf dem aktuellen Stand und häufig unterwegs, er pendelte zwischen den Kontinenten, besuchte Möbelmessen in Köln oder Paris. Beeinflusst von der Idee der 1919 in Weimar gegründeten Kunst-, Design- und Architekturschule Bauhaus, die in den 20er/30er Jahren die „Heimstätte der Avantgarde der Klassischen Moderne“ war, lautet Kagans Devise:

„A designer must create for his own age; he must apply contemporary technology to enrich contemporary man.”[3] (= Ein Designer muss für seine eigene Zeit schöpfen; er muss die Technik seiner Zeit nutzen, um seine Zeitgenossen zu bereichern.)

In den USA ist „Vladimir Kagan Designs“ ein ähnlich bekannter Begriff wie in Deutschland „Dr. Oetker“ oder „Mercedes Benz“. Doch bei aller Internationalität hatte der Designer seine Heimatstadt nicht vergessen. Im Mai 2012 und davor im Januar 2005 besuchte er seine Geburtsstadt Worms. Bei seinem letzten Besuch mit Schwester Tanya und Schwager David Josefowitz begab er sich ausgiebig auf Spurensuche. Die Geschwister wurden von Oberbürgermeister Michael Kissel empfangen, ließen sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen, trafen einen ehemaligen Schulkameraden und auch die Fotografin Ursel Orth-Giesen, deren Mutter Emma Giesen einst Kinderfotos von Vladimir machte. Hoch erfreut waren Kagan und seine Schwester, als ein halbes Jahr später, im September 2012 anlässlich des „Tags des offenen Denkmals“, über den Altertumsverein Worms eine 1933 von Vater Illy geschaffene Anrichte dem Museum Worms überreicht werden konnte.[4] Auch 2014 lebte die Erinnerung an die Familie Kagan auf: Die Ausstellung im Museum Andreasstift zum Ersten Weltkrieg enthielt auch ein Schmuckkästchen, das Vater Illy während seiner Kriegsgefangenschaft in Worms fertigte. Sohn Vladimir teilte mit:

„The box is a treasure … so happy that you have acquired this important memento of my father´s work while in the prisoner of war encampment. He always remembered the wonderful treatment he had from the military and cilivian people at the time.” [5]

( = Das Kästchen ist ein Schatz … ich bin sehr froh, dass diese wichtige Erinnerung an die Arbeit meines Vaters, während er Kriegsgefangener war, erhalten bleibt. Er hat sich gerne an die zuvorkommende Behandlung durch zivile und militärische Personen in jener Zeit erinnert.)

Auch in seiner 2004 erschienenen Autobiografie erinnert sich Kagan, trotz der Schikanen durch die Nazis, gerne an seine Kindheit in Worms, daran, dass er im Rhein das Schwimmen lernte oder daran, dass er mit seiner Familie stets gern gesehene Gäste im Majorshof bei Ludwig von Heyl und dessen Frau Eva-Maria waren. Mehr noch als in der Synagoge, die er als „dunkel, geheimnisvoll und einschüchternd“ in Erinnerung hat, hielt er sich im Dom auf, dessen jahrtausendealte Architektur ihn faszinierte. Zu Vladimirs Kindheitserinnerungen gehören ferner der köstliche Heringssalat der Mutter, die liebevolle Betreuung durch das Kindermädchen Ännchen, aber auch der Wunsch, Teil der Hitlerjugend sein zu können. Er, der gut aussehende, athletische Junge, der auf seinem Akkordeon die aktuellen Nazilieder spielte, konnte zunächst nicht verstehen, warum er keine Uniform tragen durfte, denn sportlich war er allemal: Am 2. September 1934, dem Sedantag, wurde der Siebenjährige für seine sportliche Leistung von der „Sportgruppe Worms im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ ausgezeichnet.[6] Die nationalsozialistischen Schikanen gegenüber Juden nahmen jedoch bis 1937 zu, sodass sich die Familie zur Emigration entschloss. Noch heute ist seiner Schwester Tanya die fürchterliche Begegnung mit den Gestapomännern präsent. Angst und Schrecken jagten die düsteren Gestalten in ihren hohen Stiefeln dem jungen Mädchen ein. Vater Kagan, im Gegensatz zu seiner Frau russischer Staatsbürger, wurde vor die Alternative gestellt, innerhalb von 10 Tagen Deutschland zu verlassen oder an die polnische Grenze deportiert zu werden. Der Familie Kagan gelang eine halbwegs geordnete Ausreise und ein Neuanfang in den USA, Hildegard Wallachs westfälische Verwandte dagegen endeten in den Gaskammern von Auschwitz.

Vladimir Kagans Lebensweg war voller Höhen und Tiefen. Sein Leben begann am 29. August 1927 in Worms in bescheidenen Verhältnissen, beinahe wäre es wenige Jahre später durch die Nazis beendet worden. Am 7. April 2016 verstarb er in Palm Beach/Florida. Durch Beharrlichkeit und Fleiß gelang auch ihm die Verwirklichung des „amerikanischen Traums“, ein sagenhafter beruflicher Aufstieg, der ihm Ruhm und Ehre einbrachte. So kann man Vladimir Kagan zu recht als Helden bezeichnen.

Vladimir Kagan als Zweijähriger auf einem Schaukelpferd seines Vaters (Foto: Emma Giesen 1929).


[1] Vladimir Kagan: The Complete Kagan, New York 2004, S. 21

[2] S. Jörg Koch: Uff de Gass, Worms, S. 53f. („Lieber de Kagan als gar kaan“).

[3] Twenty Years of Vladimir Kagan Designs, New York 1967, S. 1.

[4] WZ, 12.9.2012 („Schlichtes Design mit bewegter Geschichte“).

[5] Schreiben an den Autor vom 21.7.2014.

[6] Vladimir Kagan:, S. 22f.