Herta Mansbacher, 1885 – 1942

Herta Mansbacher

Wissen Sie eigentlich, wer Herta Mansbacher war? Am 26. Januar 2000 gedachte die Wormser Westend-Realschule in einer Feierstunde der hier von 1906-1935 tätigen jüdischen Lehrerin Herta Mansbacher. Damit verbunden war die Verleihung des Preises der „Gesellschaft zur Pflege und Förderung jüdischer Kultur in Worms WARMAISA“ in Höhe von 300 DM an den Realschüler Andreas Koob. Er hat im Rahmen eines von Marion  Perera durchgeführten Schulprojektes „Juden in Worms“ eine Homepage über Wormser jüdische Persönlichkeiten (Prof. Dr. iur. Hugo Sinzheimer, Komponist und Dirigent Friedrich Gernsheim, Lehrerin Herta Mansbacher)  erstellt. An der Veranstaltung nahmen die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz Esther Epstein und der Wormser Oberbürgermeister Gernot Fischer teil. Nach der Begrüßung durch Realschulrektor Joachim Thoma und  umrahmt vom Oberstufenchor unter Leitung von Heidrun Harbich stellte Dr. Fritz Reuter vom Vorstand der Gesellschaft WARMAISA den Lebensweg von Herta Mansbacher vor.

Das Wormser Schulwesen erfuhr im Jahr 1824 eine wichtige Prägung. Damals richtete die Stadtverwaltung eine „Gemeinsame Volksschule“ ein, in der Kinder sowohl der beiden christlichen Konfessionen wie aus jüdischen Familien unterrichtet wurden. Eine Trennung erfolgte lediglich im Religionsunterricht sowie, der damaligen Praxis entsprechend, in separaten Knaben- und Mädchenklassen. Da die rechtliche Gleichstellung des jüdischen Bevölkerungsteiles von Worms, die so genannte Emanzipation, jedoch erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts konkret wurde, gab es zunächst keine jüdischen Volksschullehrer. Der erste jüdische Lehrer an einer Volksschule in Worms und zugleich im Großherzogtum Hessen war Samson Rothschild (1848-1939). Er wurde 1874 angestellt, brachte es bis zum Hauptlehrer und schied erst 1921 im Alter von 73 Jahren aus dem Schuldienst aus. In den Reden und Zeitungsartikeln zu seinem 80. Geburtstag werden immer wieder seine auch außerdienstlichen Bemühungen um seine  Schüler hervorgehoben. Er besuchte sie, wenn sie krank waren oder die Familien Probleme hatten. Der ausgebildete Pädagoge erfüllte nicht nur den Bildungs- und Ausbildungsanspruch seiner Zeit, sondern nahm sich  seiner Schülerinnen und Schüler weit über seine Lehramtsverpflichtungen hinaus an. Daneben war er ein geschätztes Mitglied kultureller Vereinigungen und widmete sich intensiv Aufgaben, die sich aus seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde ergaben. All das wurde ab dem Frühjahr 1933 von den meisten „Ariern“ vergessen. Im Februar 1939 konnte der inzwischen 91jährige alte Herr, der sich jetzt Samson Israel Rothschild  nennen mußte, gerade noch rechtzeitig nach London zu einer seiner Töchter auswandern. Dort ist er wenige Wochen später gestorben.

Rothschild war durch die Herkunft aus einer orthodoxen jüdischen Familie geprägt, auch wenn er sich im Laufe seine Lebens mehr einem  konservativen Judentum zuwandte und daneben in die bürgerliche Gesellschaft des preußisch-deutschen Kaiserreiches von 1871 hinein wuchs. Die Lehrerin Herta Mansbacher, der wir uns hier widmen wollen, entstammte hingegen einer sehr viel stärker durch die deutsche bürgerliche Gesellschaft geprägten Familie. Jüdische Wurzeln spielten für ihre Erziehung und ihre intellektuelle Entwicklung nur eine geringe Rolle. Maßgebend war  für sie das bürgerlich-humanistische Bildungsideal. Ein Beleg dafür sind ihre oft verwendeten Goethe-Zitate, unter denen sie den Satz „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ (aus dem Gedicht „Das Göttliche“) zum  Lebensmotto  erhoben hatte. Es ist daher kein Zufall, dass sich ein im Wormser Raschi-Haus ausgestellter Zettel mit diesem Wort erhalten hat, von ihr eigenhändig in klarer großer Sütterlinschrift geschrieben.

Herta Mansbacher wurde am 7. Januar 1885 in Darmstadt geboren. Dort konnte sie, wie es ihr Biograph, der aus Worms stammende Historiker Prof.  Henry R. Hüttenbach  formuliert hat, in einem „materiell gesicherten und gefühlsmäßig ausgeglichenen“ Familienleben aufwachsen. Dass sie sich in dieser weltoffenen Umgebung dennoch eher zurückhaltend entwickelte, lag einmal in ihrem Wesen, zum anderen aber offensichtlich in einem Körperschaden, einer Rückgratverkrümmung, begründet. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester, die hübscher war, sich gut verheiraten und ein großes Haus führen konnte, sah sie sich selbst nicht als, wie man damals sagte, „gute Partie“ an. So entschied sie sich für eine selbständige berufliche Karriere. Sie wählte dafür den Lehrerinnenberuf. 

Nach abgelegtem Examen fand sie 1906 eine erste Lehrerinnenstelle an der Worms-Hochheimer Volksschule. Bereits nach kurzer Zeit wechselte sie an die seinerzeit noch als Neubau geltende, 1904 fertiggestellte Westendschule. Hier unterrichtete sie in den ersten 4 Volksschulklassen, nach heutiger Bezeichnung in der Grundschule. Der 1906 geborenen  Erstklässerin Maria Thomas schrieb sie in ihr Poesie-Album: „Ist von Glück dir viel beschieden, / Nimm es froh und dankbar an. / Ist es wenig, sei zufrieden / Und begnüge dich daran. Zur Erinnerung an Herta  Mansbacher. Worms, den 21. März 1912“.  Von ehemaligen Schülerinnen wird sie als strenge, aber gerechte Lehrerin bezeichnet. Leistungsanforderung und Disziplin waren ein Richtschnur für den  Elementarschulunterricht jener Zeit. Sie schlossen jedoch persönliche Zuwendung nicht aus. Wie der zu Beginn erwähnte Lehrer Samson Rothschild hat sich auch Herta Mansbacher, oder wie man damals sagte „Fräulein  Mansbacher“, sowohl innerhalb wie außerhalb ihrer schulischen Verpflichtungen um das Wohl ihrer oft aus sozial schwachen Familien stammenden Schüler- und Schülerinnen gekümmert. In den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) soll sie mit Kindern, die ohne Frühstück in die Schule geschickt wurden, ihr eigenes Frühstück oder auch ihr Mittagessen geteilt haben. Darin wird eine Zuwendung deutlich, in der Henry Hüttenbach wohl zu Recht „einen Überschuß an Gefühl … eine Mischung aus unerfüllten mütterlichen Regungen und sozialem Verantwortungsgefühl“ gesehen hat. Wem die Teilnahme an Klassenfahrten in die Pfalz oder in den Odenwald aus finanziellen Gründen verwehrt schien, durfte auf die Hilfe der Lehrerin hoffen. Sie selbst liebte Wanderungen. Es gelang ihr, eine kleine Gruppe von Kolleginnen um sich zu scharen, die sie respektierten und die sich von ihr gerne in Vergangenheit und Gegenwart der näheren und weiteren Umgebung einführen ließen. Doch zeigen Fotos,  dass bei aller Heiterkeit und Ausgelassenheit der Gruppe Herta Mansbacher im Grunde ernst und etwas distanziert blieb. Es fehlte ihr nicht an Witz und Schlagfertigkeit, aber eben doch an einer gewissen Leichtigkeit, so dass ihre spontanen Stellungnahmen ihre Kolleginnen nicht immer erheiterten sondern bisweilen eher einschüchterten.

Dieser Kreis, an dem sie sehr hing, löste sich nach und nach infolge Eheschließungen oder Versetzungen auf. Für Herta Mansbacher bedeutete dies auf Dauer ein weiteres Zurückgehen in sich selbst, eine Isolierung. Das dürfte mit ein Grund gewesen sein für Verhaltensweisen, die im Gedächtnis ihrer Schülerinnen als Kuriosa erhalten blieben. Sie galt als etwas komische Figur, die bei Wind und Wetter mit ihrem Fahrrad in die Schule fuhr und dort mit strenger Miene und humorlos ihres Amtes waltete.  Ihre häusliche Liebe galt Katzen, die sich in großer Zahl bei ihr versammelten und mit denen sie sich unterhielt. Das brachte ihr den Spitznamen „Bussie“ ein, weil sie so die Katzen rief. Dennoch wurde ihr der Respekt als Lehrerin nicht versagt.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, denen die Wormser demokratischen Kräfte und insgesamt die Bevölkerung nur wenig  Widerstand entgegenzusetzen hatten, blieb Herta Mansbacher zwar zunächst im Schuldienst in der Westendschule. Das Umfeld änderte sich allerdings schnell, da nicht wenige ihrer Kolleginnen und Kollegen sich der neuen  politischen Richtung zuwandten, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus. Auch ihre Schülerinnen begannen, judenfeindliche Redensarten nachzusprechen. Ihre Isolierung nahm weiter zu. Den bisher ihr entgegengebrachten Respekt fühlte sie schwinden. An einem Unterrichtsmorgen Anfang 1935 klopfte es an die Klassentür. Frau Mansbacher ging hinaus, um zu sehen und zu hören was es gab – und kam nicht mehr zurück. Es war das abrupte Ende ihrer mehr als ein Vierteljahrhundert währenden Berufstätigkeit als Volksschullehrerin in Worms.

Bisher hatte sie als Ziel vor Augen gehabt, als Deutsche Kinder zu guten deutschen Bürgern des Reiches zu bilden und zu erziehen. Ihrer jüdischen Herkunft hatte sie keine Beachtung geschenkt. In der jüdischen Gemeinde hatte sie sich weder engagiert noch war sie dort besser bekannt als allgemein in der Stadt. Aber die völlig neue Rechts- und Lebenssituation, in der sie sich unerwartet fand, führte zu einer Neuorientierung. Zwar bot sie in einem sich bildenden jüdischen Kulturverein zunächst weiter Themen aus der deutschen Literatur und Geistesgeschichte  an. Aber sie vertiefte sich zugleich in jüdische Geschichte und jüdisches Leben und wurde so von der indifferenten deutschen Staatsbürgerin zu einer bewußten jüdischen Frau. Herta Mansbacher suchte und fand für sich eine neue Identität.

1935 richtete die jüdische Gemeinde aufgrund der entstandenen Notsituation eine jüdische Bezirksschule ein. Sie wurde im Gemeindehaus am Synagogenplatz 2 (damals Hinterer Judengasse 2) untergebracht und nahm jüdische Jungen und Mädchen auf, die nicht mehr in den allgemeinbildenden Schulen, aber auch nicht mehr an Wormser Oberschulen bleiben konnten  oder wollten, weil sie dort persönlichen Angriffen und Beleidigungen von Schülern und Lehrern ausgesetzt waren. Als Herta Mansbacher gefragt wurde, ob sie an der Bezirksschule mitarbeiten wolle, zumal sie eine der wenigen ausgebildeten Fachkräfte sein würde, sagte sie ohne Zögern zu. Erstmals hatte sie nun auch ältere Schüler und Schülerinnen zu unterrichten, was sie vor neue Aufgaben stellte. Doch ergaben sich bald innere Auseinandersetzungen um das Ziel der schulischen Bildung. Während der Schulleiter Dr. Rosenbusch eine eher traditionelle Linie vertrat und vor allem Wert auf gute Allgemeinbildung legte, setzte sich der junge und etwas ungestüme Gemeinderabbiner Rosenberg für eine eindeutig zionistisch geprägte Ausbildung ein. Da er davon ausging, dass jüdische Kinder in Deutschland keine Arbeits- und Lebenschance mehr hätten und über kurz oder lang auswandern und in einer anderen kulturellen Umgebung leben müßten, forderte er den Schwerpunkt der Schulbildung auf Fremdsprachen, Kenntnisse über Palästina und praktische Berufsausbildung zu legen. Als  Dr. Rosenbusch schließlich nach Wiesbaden wechselte, übernahm Herta Mansbacher 1936/37 kommissarisch die Schulleitung. Sie stand inzwischen Rabbiner Rosenbergs Auffassung näher und begann, sich für eine Förderung  der Auswanderung einzusetzen. Allerdings brachte das Jahr 1936 eine trügerische Beruhigung in der Unterdrückung der Juden. An den Olympischen Spielen in Berlin durfte in den Fechtwettbewerben aus Prestigegründen die  jüdische Spitzensportlerin Helene Mayer, Olympiasiegerin von 1928, teilnehmen und gewann die Silbermedaille.  Von vielen Juden wurde das als ein Hoffnungszeichen gedeutet. Herta Mansbacher ließ sich nicht  beirren. Sie versuchte vor allem den Eltern ihrer Schüler und Schülerinnen klar zu machen, dass die Auswanderung dringend geboten sei. Damit stand sie jedoch gegen den größten Teil der noch in Worms gebliebenen  jüdischen Gemeindemitglieder, die den Verlust ihrer kulturellen Identität ebenso befürchteten wie sie aus wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen die Auswanderung scheuten. Dazu trugen auch patriotische Gefühle bei, da sich viele Juden nach wie vor als Deutsche betrachteten und auf Besserung der Verhältnisse hofften. Für Frau Mansbacher war es daher nicht leicht, ihrer abweichenden Sicht Gehör zu verschaffen. Sie ist an  dieser Aufgabe in vieler Hinsicht gewachsen. Ihre eigene Position war klar. Nach außen wirkte sich das sogar in ihrem Erscheinungsbild aus. Nach den Schilderungen von Schülerinnen radelte sie nicht mehr als  kreidebestäubtes, unfrisiertes und schlecht gekleidetes Unikum herum, sondern wurde zur selbstbewußten Persönlichkeit. Das läßt sich auch an erhaltenen Fotos ablesen.

Bereits kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hatte Frau Mansbacher begonnen, die Namen von Worms verlassenden Juden listenmäßig zu erfassen. So entstand eine Art Chronik der Auflösung der tausendjährigen Wormser jüdischen Gemeinde. Herta Mansbacher hat diesem Vorgang zwei Gedichtstrophen gewidmet, in denen sie das Weggehen aus  der vertrauten Stadt und die Hoffnung auf eine noch ungewisse bessere Zukunft in der Fremde aufgreift: „Unaufhaltsam fließt der Strom, / Der verläßt das deutsche Land, / Die Stadt mit ihrem schönen Dom, / Wo einst  seine Wiege stand. / Eine neue Heimat finden / Will er über´m Meere noch. /  Eine Existenz zu gründen, / Mög´ es ihm gelingen doch. H. M.“.  Die Schulhefte, in die sie ihre Eintragungen gemacht hat, haben sich erhalten und befinden sich heute in Israel in der jüdischen Gedenkstätte Jad Vaschem.

Als am Morgen  des 10. November 1938 überall in Deutschland die Synagogen brannten, besaß Herta Mansbacher den Mut, sich den  Nazibrandstiftern aus Worms und umliegenden Orten entgegenzustellen. Der erste Versuch einer Brandstiftung in der ältesten Synagoge Deutschlands mißlang. Herta Mansbacher bemühte sich um die Rettung der sakralen Gegenstände. Doch die Brandstifter kehrten zurück. Frau Mansbacher versuchte sich ihnen in den Weg zu stellen. Sie wurde auf die Seite geschleudert. Das über 900 Jahre alte Gotteshaus ging in Flammen auf. So  richtete Herta Mansbacher ihre Bemühungen auf die Wiederherstellung der Schule. Sie sammelte brauchbare Gegenstände, Bücher, Hefte, Bleistifte und dergleichen, um den Schulbetrieb möglichst bald wieder in Gang zu  bringen. Es gehörte erstaunlicher Mut dazu, in dieser aufgeladenen Stimmung mit einem Handwagen durch die Stadt zu laufen und Material in das Schulhaus am Synagogenplatz zu transportieren. Nach wenigen Wochen konnte  der Unterricht wieder aufgenommen werden. Für die Schulkinder wurde Herta Mansbacher zu einer Hoffnungsträgerin auf das eigene Überleben. Und unverdrossen suchte sie Eltern wie Schüler vom Sinn baldiger Auswanderung  zu überzeugen. Man wird sich fragen, warum sie diese erkannte Notwendigkeit nicht für sich selbst umgesetzt hat. Aber nach Kriegsbeginn 1939 waren in der auf einen kleinen Bruchteil der ursprünglichen Anzahl ihrer Mitglieder geschrumpften jüdischen Gemeinde noch immer 15 Kinder zu unterrichten. Ihnen wollte sie beistehen, für sie blieb sie in Worms.  So verpaßte sie die durchaus gegebene Gelegenheit der eigenen Auswanderung. Gemeinsam mit der Lehrerin Dr. Sonnenberger, mit der sie weitläufig verwandt war und bei der sie seit 1934 ein Zimmer in der Moltkeanlage 6 (heute Adenauerring) bewohnte, hielt sie solange Unterricht,  bis die Schule 1941 endgültig geschlossen wurde.

In den Folgemonaten mußte Herta Mansbacher zeitweilig bei einer Mainzer Schuhcréme-Fabrik Zwangsarbeit leisten. In jeder freien Minute  arbeitete sie an ihrer Auswandererliste, um so Zeugnis vom Ende der Wormser Gemeinde und dem Schicksal ihrer Mitglieder abzulegen. Von der bevorstehenden Deportation hat sie offenbar einen Hinweis erhalten. Denn sie rollte wenige Tage vorher eines ihrer Bilder, das einen Blumenstrauß am Fenster eines einfachen Zimmers zeigte, zusammen und schickte es ihrer ehemaligen Schülerin Doris Herzberg nach Heidelberg als Andenken. Am Donnerstag, dem 19. März 1942, versammelte sich auf dem Platz zwischen der ausgebrannten Synagoge und dem Gemeindehaus eine Gruppe von jüdischen Wormsern, die jetzt nur noch Juden aus Worms sein sollten. Unter ihnen war Herta Sara Mansbacher, wie sie sich inzwischen nennen mußte. Auch einige ihrer letzten Schüler gehörten dazu. Mit vorgeschriebenem Gepäck marschierten sie dann unter Polizeibegleitung zum Güterbahnhof zur Deportation. 1906 war Herta Mansbacher als freier Mensch und deutsche Staatsbürgerin nach Worms gekommen. 36 Jahre später wurde sie aus der Stadt vertrieben, in der sie gelebt, unterrichtet, ein wenig gezeichnet und gemalt, vor allem aber sich um ihre Schülerinnen und Schüler gekümmert hatte. Jene Wormser, die den traurigen Zug sahen, der da durch Gaustraße und Güterhallenstraße geführt wurde, mögen vielleicht erschrocken sein, Angstgefühle mögen sie beschlichen haben, wenige werden Mitleid verspürt haben. Jedenfalls ließen sie es geschehen und hielten sich aus Furcht um die eigene Sicherheit zurück. Im Grunde war es ein Verrat an Mitbürgern, ein Verrat an der Menschlichkeit.
In der Einwohnermeldekartei heißt es, Herta Sara Mansbacher sei ohne Angabe eines Reisezieles abgereist. Zumindest ein Teil des Deportationsweges ist bekannt. Die Reise in den Tod führte über Mainz nach Piaski nahe Lublin in Polen. Dann verliert sich die Spur ihres Lebens. Vermutlich kam sie in das Konzentrationslager Belzec und wurde dort ermordet.

Es ist schwer, sich die Zahl von 6 Millionen ermordeter europäischer Juden vorzustellen. Hingegen läßt die Beschäftigung mit einem  Einzelschicksal einen Menschen vor unsere Augen treten, der wie wir hier gelebt hat, dem aber Entsetzliches widerfahren ist. Dieses Schicksal ist nachvollziehbar. Als ich 1940 in die in der Westendschule untergebrachte damalige Mittelschule kam, deren Nachfolgerin die heutige Westendrealschule ist, waren seit dem Hinauswurf der Grundschullehrerin Herta Mansbacher kaum fünf Jahre vergangen. Ich habe weder damals noch viele Jahre danach etwas von einer Lehrerin namens Herta Mansbacher gehört. Und den meisten von Ihnen wird es ebenso ergangen sein. Dabei führt ihr Lebensweg exemplarisch vor Augen, was eine Frau an Energie, Liebe  und Mut aufbringen konnte und wie dennoch aus ihr eine Ausgestoßene geworden ist, deren endgültiger Tod das Vergessen bedeuten würde. Daher habe ich hier heute die Frage gestellt: „Wissen Sie eigentlich, wer Herta  Mansbacher war?“ Schließlich wird ab und an über sie geredet. Und seit 1988 gibt es auch eine Herta-Mansbacher-Anlage vor der nördlichen Stadtmauer unweit des Raschi-Tores. Doch nicht nur ich habe mich bemüht, auf die gestellte Frage eine Antwort zu geben. Der Biograph Henry R. Hüttenbach und der Schüler Andreas Koob haben es zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Medien ebenfalls getan.

Aus der Erfahrung, was der Mensch dem Menschen antun kann, wächst vielleicht bessere Einsicht und die Bereitschaft, sich für Menschenwürde zu engagieren. Herta Mansbacher hat ein Beispiel gegeben. In der Synagoge wird ihr Name auf einer Bronzetafel genannt, deren Inschrift ihr Ideal und ihre persönliche Leistung zusammenfaßt: „Stärker als Löwen, um nur für das Gute zu kämpfen“. Das ist, bei aller Angst und Unmenschlichkeit in dieser Welt, ein hoffnungsvolles Zeichen.

Literaturhinweise:

  • Henry R. Hüttenbach, Herta Mansbacher. Porträt einer jüdischen Lehrerin, Heldin und Märtyrerin (1885-1942) (Der Wormsgau, Beiheft 27). Worms 1981;
  • Annelore und Karl Schlösser, Keiner blieb verschont. Die Judenverfolgung 1933-1945 in Worms (Der Wormsgau, Beiheft 31). Worms 1987, 1989. Die Grundlage dieses Buches bildet die umfangreiche Materialsammlung  (Dokumentation) der Autoren im Stadtarchiv Worms, Abt. 203: Judaica Sammlung;
  • Fritz Reuter, Warmaisa. 1000 Jahre Juden in Worms (Der Wormsgau, Beiheft 29). Worms 1984, erw. Auflage Frankfurt (Jüdischer Verlag) 1987;
  • Ders., Politisches und gesellschaftliches Engagement von Wormser Juden  im 19./20. Jahrhundert. Die Familien Eberstadt, Edinger, Rothschild und Guggenheim, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte  1999. Berlin und Bodenheim bei Mainz (Philo) 1999, S. 305-345.
  • Dieser Artikel war gedruckt in : Mit Anmerkungen gedruckt in: Sachor. Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz. 10. Jahrgang, Ausgabe  2/00, Heft 19, S.